Gewalt in der Qualifizierung Sozialer Arbeit – Ein Zwischenruf

Gewalt in der Sozialen Arbeit

Gewalt wird in der Sozialen Arbeit intensiv in verschiedenen Konstellationen, Perspektiven und Schwerpunktsetzungen – wie ein unvollständiger Blick alleine in die jüngere Vergangenheit zeigt (Breuer & Winands 2023; Derr 2023; Jagusch 2023; Künkler & dos Santos 2023; Weidner & Kilb 2023; Henningsen & Sielert 2022; Wahren 2022) – direkt wie indirekt erforscht.

Damit deutet sich ein Widerspruch zwischen dem Wissen über Gewalt sowie dem Alltag in der Sozialen Arbeit an. Immerhin nehmen in den vergangenen Monaten die Medienberichte über Gewalt durch Beschäftigte der Sozialen Arbeit gegenüber ihren Adressat*innen zu (hr 2023; Bub 2023). Besonders häufig stehen dabei im Fokus: Einrichtungen der Elementarbildung und Organisationen der Sozialen Arbeit mit Menschen, die durch die Gesellschaft behindert werden.

Gewalt in der Sozialen Arbeit nimmt zu

Eine quantitative Studie unter mehr als 8.200 Beschäftigten der Sozialen Arbeit zeigt eine deutliche Zunahme an gewaltförmigen Konstellationen (Alsago & Meyer 2023; Meyer 2023). Die Daten stammen aus einer Online-Befragung von Beschäftigten in der Sozialen Arbeit, die im November 2022 stattfand, etwa einen Monat nach Rücknahme der meisten Corona-Schutzmaßnahmen (Meyer & Alsago 2023).

Dabei stand u. a. die Frage im Mittelpunkt, wie Beschäftigte aus unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit psychische und physische Gewalt durch und gegen Adressat*innen vor und während der Corona-Pandemie wahrgenommen haben (Meyer 2023). 37,1 Prozent der Befragten berichten von psychischer Gewalt durch Beschäftigte gegenüber Adressat*innen vor Ausbruch der Pandemie (ebd.). Dazu zählen unter anderem Bevormunden, Niederbrüllen, Ignorieren, Drohen sowie Beschimpfen (Bundschuh & Glammeier 2023). Während der Pandemie steigt die Quote um 11 Prozent auf 41,5 Prozent an (Meyer 2023). Auch von physischer Gewalt gegenüber Adressat*innen berichten die Beschäftigten. Diese kann von Schubsen, hartem Anpacken und Schütteln bis hin zu schweren Formen wie Fixieren reichen (Bundschuh & Glammeier 2023). Auch hier steigen die Werte während der Pandemie, und zwar deutlich um über 10 Prozent auf 24,7 Prozent (Meyer 2023).

In den Einrichtungen der Sozialen Arbeit haben sich während der Corona-Pandemie auch aggressives Verhalten der Adressat*innen gegenüber Beschäftigten ebenso wie allgemeine Konflikte zwischen Beschäftigten sowie Adressat*innen und/oder deren Angehörigen deutlich gesteigert (ebd.). Demgegenüber sinkt die Gewalt von Adressat*innen gegenüber Beschäftigten während der Corona-Pandemie um 0,7 auf 5,7 Prozent ab (ebd.).

Gewalt in den Qualifizierungsinstitutionen Sozialer Arbeit

Die Befragung erfolgte, wie bereits dargelegt, unter Beschäftigten in der Sozialen Arbeit. Im Rahmen der Bereinigung der Daten nach Abschluss der Befragung – wobei beispielsweise Duplikate, unvollständige Fragebogen o. Ä. gesucht und bearbeitet werden – konnten auch Angaben von Lehrenden aus Institutionen zur Qualifizierung für die Soziale Arbeit (Meyer & Braches-Chyrek 2023), also von der Sozialassistenz bis zum Masterabschluss, sowie von Schüler*innen bzw. Studierenden identifiziert werden, die für die letztliche Auswertung keine Verwendung gefunden haben (Alsago & Meyer 2023; Meyer & Alsago 2023). Allerdings werfen diese ein Schlaglicht auf die Bedingungen in den Qualifizierungsinstitutionen der Sozialen Arbeit.

Die empirische Datenbasis ist nicht groß, was die Gefahr großer Abweichungen oder gar falscher Beschreibungen der sozialen Wirklichkeit in sich birgt. Insofern soll dieser Beitrag tatsächlich zunächst ‚nur‘ ein Zwischenruf sein, denn die ermittelten Wahrnehmungen gewaltförmiger Konstellationen sowohl der Lehrenden als auch der Schüler*innen und Studierenden müssen alarmieren. Immerhin sind die Qualifizierungsorte für die Soziale Arbeit nicht ausschließlich Orte der formalen Wissensvermittlung im Sinne nachprüfbarer Fakten. Sie sind eben auch Orte der Bildung, an denen die gesamte Persönlichkeit in den Blick gerät sowie die künftigen Beschäftigten der Sozialen Arbeit ihr Welt- und Menschenbild ebenso wie ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit reflektieren und revidieren. Ebenso darf im Sinne des Modelllernens angenommen werden (Bandura 1976), dass die Lehrenden für Schüler*innen und Studierende wichtige Bezugspersonen für die eigene Lernprozesse und die Entwicklung einer beruflichen Identität darstellen.

Konkret stehen Angaben sowohl von Schüler*innen aus der Ausbildung zur Sozialassistenz/Kinderpflege und Studierenden an Fachschulen (Erzieher*innen-Ausbildung) (n=14) als auch von Studierenden an Hochschulen (n=32) sowie Lehrenden an den jeweiligen Institutionen zur Verfügung (schulische Qualifizierung n=12 sowie hochschulische Qualifizierung n=23).

12,4 Prozent der Schüler*innen wie Fachschulstudierende erlebten vor Pandemiebeginn häufig oder sehr Konflikte mit Lehrenden, die auch aggressiv werden konnten (27,3 %) und bei 11,9 Prozent sogar zu Verletzungen führten. Während der Coronapandemie ist der Anteil von Konflikten leicht gestiegen (17,6 %), wobei aber sowohl aggressives Verhalten (6,8 %) als auch Verletzungen (4,7 %) zurückgehen. 18,9 Prozent der Schüler*innen und der Fachschulstudierenden erlebten vor Ausbruch der Pandemie psychische sowie zu 12,9 Prozent physische Gewalt durch Lehrende. Ähnlich wie in der Sozialen Arbeit insgesamt steigt dieser Anteil während der Corona-Pandemie (Meyer 2023) auf 20 Prozent bei psychischer sowie 13,2 Prozent bei physischer Gewalt.

10,8 Prozent der Studierenden an den Hochschulen berichten von häufigen oder sehr häufigen Konflikten mit Lehrenden vor Pandemiebeginn, die dann auch gelegentlich aggressiver Art waren (23,4 %). 16,4 Prozent der Befragten berichten außerdem von psychischer und physischer Gewalt (10,3 %) vor Ausbruch der Corona-Pandemie durch Lehrende. In der Wahrnehmung der Hochschulstudierenden wächst dieser Anteil (psychische Gewalt: 22,2 %, physische Gewalt: 11,3 %) ebenso wie die Zahl der Konflikte mit Lehrenden (18,2 % häufig oder sehr häufig) seit Beginn der Pandemie.

Nun wird zur Wahrnehmung der Lehrenden an den verschiedenen Formen beruflicher Schulen zur Qualifizierung für die Kernberufe Sozialer Arbeit gewechselt (Meyer & Schoneville 2023; Meyer & Braches-Chyrek 2023). Hier berichtet lediglich etwa ein Fünftel der Befragten von sehr häufigen Konflikten mit Schüler*innen oder Fachschulstudierenden vor Pandemiebeginn (18,2 %), die noch selten aggressiv verliefen. Allerdings berichten 55,5 Prozent sowohl von physischer Gewalt – wenn diese auch ‚nur‘ ab und zu oder selten vorkommt – an der jeweiligen Schule als auch von psychischer Gewalt (20 % ab und zu, 20 % selten) vor Ausbruch der Pandemie. Im Verlauf der Corona-Pandemie ergibt sich bei der Häufigkeit der Konflikte keine Veränderung ebenso wie bei aggressivem Verhalten. Allerdings nehmen die Verletzungen durch Schüler*innen und Fachschulstudierende zu (14,3 %). 57,2 Prozent berichten außerdem von physischer (ab und zu sowie selten) sowie psychischer Gewalt (25 % ab und zu, 25 % selten).

An den Hochschulen erwähnen die Lehrenden ähnliche Erfahrungen mit gewaltvollen Konstellationen: 66,6 Prozent berichten von gelegentlichen oder seltenen Konflikten mit Studierenden vor Pandemiebeginn, die eher selten aggressiver Natur waren (33,3 %). Die Zahl der Konflikte steigt nach der Pandemie in der Wahrnehmung der Hochschullehrenden (86,7 %) deutlich an, wenn auch als aggressiv wahrgenommene Situationen nicht mehr vorkommen. Ebenso nehmen Hochschullehrende keine psychische oder physische Gewalt gegenüber Studierenden wahr. In den offenen Antworten finden sich allerdings relevante Aspekte: Während die Fragen des Fragebogens auf Gewalt zwischen Beschäftigten bzw. Adressat*innen abzielten, weisen die Lehrenden auf psychische Gewalt zwischen den Lehrenden hin. Insbesondere gilt dies im Hochschulbereich, wo in sieben Fällen umfassende und lange Schilderungen von Mobbingsituationen zwischen Lehrenden wie zwischen Lehrenden sowie den Mitgliedern des jeweiligen Dekanats geschildert werden.

Ausblick

Die vorliegenden Daten liefern – wenn auch aus empirischer Perspektive mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten – wichtige Impulse: Die Wahrnehmung von gewaltvollen Konstellationen vor und während der Coronapandemie gehen zwischen Schüler*innen sowie Studierenden einerseits und Lehrenden andererseits deutlich auseinander.

Gleichzeitig besteht, zumindest in diesen geringen Fallzahlen, in den Institutionen zur Qualifizierung für die Soziale Arbeit eine nicht unerhebliche Gewalterfahrung. Parallel steigt die Zahl solcher gewaltvollen Konstellationen in der Wahrnehmung der meisten Befragten an.

Deutlich wird in den Befragungsergebnissen zudem, dass die Auseinandersetzung mit Gewalt in den Qualifizierungsinstitutionen für die Soziale Arbeit nicht nur ein Thema sein kann, in Zuge dessen über ‚die anderen‘ gesprochen wird. Stattdessen müssen sich die verschiedenen Statusgruppen in den Qualifikationsorten – angesichts der vorhandenen Gewalterfahrungen sowie der intensiven Diskussion in der Praxis, die von veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen flankiert wird – konkret über Gewaltschutzkonzepte und -prävention Gedanken machen. Dabei gilt es einerseits die Ebene zwischen künftigen Fachkräften und Lehrenden in den Blick zu nehmen, doch andererseits ebenso die Ebene zwischen Lehrenden wie zwischen Studierenden.

Dass gerade die Qualifizierungsorte für die Soziale Arbeit hier in besonderer Weise vorangehen sollten, statt es ausschließlich als ein Thema der Praxis zu erachten, ergibt sich unmittelbar durch deren Auftrag: die inhaltliche Vorbereitung der Schüler*innen und Studierenden auf die Praxis Sozialer Arbeit bzw. spezifische Handlungsfelder. In dieser Perspektive kommt den Lehrenden und damit den Schulen wie Hochschulen eine besondere Verantwortung zu, denn Schüler*innen wie Studierende nutzen Lehrende gleichsam als Rollenvorbilder.

Die Verantwortung ergibt sich allerdings auch aus der späteren Tätigkeit: Immerhin qualifizieren die verschiedenen Einrichtungen für Berufe mit teilweise besonders vulnerablen Gruppen. Die in den Qualifizierungseinrichtungen erlebten Erfahrungen, so ist anzunehmen, wirken dabei durch die künftigen Fachkräfte auf die Adressatinnen und Adressaten nach.

Prof. Dr. Nikolaus Meyer (*1982) – Professor für Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Arbeitsschwerpunkte: Professionalisierung und Professionalität Sozialer Arbeit, komparative Berufsgruppen- und Organisationsforschung sowie Soziale Arbeit, Nationalsozialismus und die berufsbezogenen Auswirkungen bis heute

nikolaus.meyer@sw.hs-fulda.de

Literatur:

Alsago, E. & Meyer, N. (2023). Prekäre Professionalität. Soziale Arbeit und die Coronapandemie. Opladen, Toronto, Leverkusen: Barbara Budrich. doi: https://doi.org/10.3224/84743031.

Breuer, M. & Winands, M. (Hrsg.) (2023). Identität, Diskriminierung und Gewalt. Weinheim: Beltz.

Bub, N. (2023). Mehr Fälle von Gewalt in Kitas gemeldet, Frankfurter Allgemeine Zeitung. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/gewalt-in-kitas-kinderschuetzer-fordern-individuelle-schutzkonzepte-18878524.html. Zugegriffen: 30. Juni 2023.

Bundschuh, C. & Glammeier, S. (2023). Gewalt in Abhängigkeitsverhältnissen. Stuttgart: Kohlhammer.

Derr, R. (2023). Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung. Einflussfaktoren der Organisation auf Gewalt durch Mitarbeitende und unter Jugendlichen. Weinheim: Beltz.

Henningsen, A. & Sielert, U. (Hrsg.) (2022). Praxishandbuch Sexuelle Bildung, Prävention sexualisierter Gewalt und Antidiskriminierungsarbeit. Weinheim: Beltz.

Hessischer Rundfunk (hr) (Hrsg.) (2023a). Wo 2022 mehr Fälle von Gewalt in Kitas gemeldet wurden – und wo weniger, Hessischer Rundfunk. https://www.hessenschau.de/gesellschaft/gewalt-in-kitas-wo-in-hessen-2022-mehr-faelle-gemeldet-wurden—und-wo-weniger-v1,kitas-gewalt-100.html. Zugegriffen: 30. Juni 2023.

Jagusch, B. (2023). Diversitätssensibilität im Kinderschutz. In M. Böwer & J. Kotthaus (Hrsg.), Praxisbuch Kinderschutz (2. Auflage, S. 231–244). Weinheim: Beltz.

Künkler, T. & dos Santos, C. (2023). Analyse und Prävention von Gewalt. Stuttgart: utb.

Meyer, N. & Alsago, E. (2023). Arbeiten am Limit. Die veränderte Soziale Arbeit am Ende der Coronapandemie. Soziale Arbeit. Zeitschrift für soziale und sozialverwandte Gebiete (7), S. 242–249. doi: https://doi.org/10.5771/0490-1606-2023-7-242.

Meyer, N. (2023). Gewalt in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Professionsbezogene Folgen veränderter Arbeitsbedingungen in der Coronapandemie. Sozial Extra. doi: https://doi.org/10.1007/s12054-023-00644-x.

Wahren, J. (2022). Soziale Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag.

Weidner, J. & Kilb, R. (Hrsg.). (2023). Gewalt im Griff. Weinheim: Beltz.


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