Der Master als Regelabschluss – Gedankenspiele zu einer Realutopie

Haben Sie Lust auf ein Gedankenspiel in Form einer Zeitreise? Am Ende schauen wir in die Zukunft, aber jetzt stellen Sie sich bitte erst einmal vor, Sie lebten im Jahr 1969 – ja, das Jahr, dessen Sommer Bryan Adams besingt, und ja, das Jahr nach dem sagenumwobenen 1968. Sie befinden sich in Westdeutschland und wollen „was Soziales“ studieren. Alternativ können Sie sich auch vorstellen, dass Sie Sozialpädagogik bzw. Sozialarbeit lehren und jungen Menschen diesen Beruf („diese Berufung!“) nahebringen wollten. Beide haben davon gehört, dass eine Art Universität gegründet werden soll. Sie soll Fachhochschule heißen und es soll dort ein Diplom-Studiengang Sozialarbeit/Sozialpädagogik eingerichtet werden. Sie überlegen noch, ob diese neue Einrichtung mehr „Hochschule“ oder doch mehr „Fachschule“ ist und wundern sich insgeheim über die kreative Wortschöpfung der „Fach-Hoch-Schule“. Dort soll jedenfalls, so haben Sie gehört, tatsächlich das studiert werden können, was, so sagen es Ihnen Angehörige und Freunde – teils unaufgefordert –, doch letztlich alle auch ohne Ausbildung und Studium tun: helfen eben. Erst kürzlich fragte Sie ein guter Freund: „Das soll man studieren müssen? Warum? Und was ist das überhaupt für ein merkwürdiges Fach?“ Ja, so ganz sicher sind Sie sich auch nicht, trotzdem bewerben Sie sich für das Wintersemester 1970/71 und tatsächlich: Sie kriegen die Stelle bzw. den Studienplatz.

Und jetzt wird es gedanklich etwas heraufordernd, denn entweder müssen Sie sich jetzt für eine der beiden Rollen entscheiden oder sich auf beide einlassen. Denn zufällig begegnen sich beide bei der Begrüßungsfeier und kommen über ihr gemeinsames erstes Semester ins Gespräch: „Was? Sie wussten gar nicht, was das Studium eigentlich ist? Sie wollten einfach was Soziales studieren?“ – „Ja, und Sie? Wussten Sie denn, auf was für eine Stelle Sie sich bewerben? Sie sind doch eigentlich X (hier können Sie, liebe*r Leser*in, wahlweise eine der Bezugswissenschaften eintragen…) und müssen bestimmt erstmal lernen, worum es sich bei dem Beruf der Sozialarbeiterin bzw. des Sozialpädagogen überhaupt handelt, oder?“ Am Ende der Begrüßungsfeier gehen die zwei noch einen Kaffee in der neuen Cafeteria trinken und fragen sich, was wohl aus dieser neuen Fachhochschule bzw. dem Studium werden wird, in 10, 20 oder 50 Jahren. Die Ideen reichen von: „Ob das wohl was wird? Braucht man wirklich ein Studium? Das ging doch früher auch ohne.“ über „Das wird noch richtig spannend, ob wir es hier schaffen, ein richtiges Studium hinzubekommen.“ bis hin zu: „Irgendwann wird das ganz normal sein, dass man studiert haben muss, um als Sozialarbeiter bzw. Sozialpädagogin in diesem Feld zu arbeiten.“ Ganz abseitige Ideen, die Sie aber beide schnell verwerfen, lauten sogar: „Bestimmt muss man dann ja auch in diesem Fach forschen.“ und „An Universitäten promoviert man ja auch, warum nicht auch an Fachhochschulen?“

Alle Fragen, die damals noch vorsichtig gestellt wurden, sind mittlerweile (positiv) beantwortet: Soziale Arbeit ist zu studieren, wenn auch in vielfältiger Form und an ganz verschiedenen Hochschultypen. Das Studium und die staatliche Anerkennung sind ein Gütesiegel für wissenschaftlich (aus)gebildete Professionalität und mit der Bolognareform entstand sogar ein zweistufiges Abschlusssystem mit Bachelor und Master. Letzteres ist dem Abschluss an Universitäten formal gleichgestellt, sodass man damit auch promovieren kann. Bislang nur an Universitäten in Form kooperativer Promotionen, zukünftig aber wohl immer mehr auch autonom an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Und geforscht wird ganz selbstverständlich auch.

Wenn wir die Quintessenz des Gedankenspiels zusammenfassen wollten, könnte dies wie folgt lauten: „Wer hätte das damals gedacht?“ oder auch „Wer hätte gedacht, dass es einmal soweit kommt, dass Lehre, Studium und Forschung so selbstverständlich auch zur Sozialen Arbeit dazugehören?“

Und dann taucht unweigerlich die nächste Frage auf, nämlich: „Wie wird es aus unserer heutigen Perspektive, 2023, in der Zukunft weitergehen?“ Wird sich die Promotion als akademische Qualifikation durchsetzen? Werden immer mehr Masterabsolvierende diesen Weg gehen? Werden sie dies auch (oder vielleicht vor allem) an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften tun? Wird es nach und nach eine veränderte Professionalität geben, wenn immer mehr Studierende mit einem Masterabschluss tätig werden?

Und dann ist es nur ein kleiner Schritt zur ultimativen „Master-Frage“ (… ja,
ich weiß, der lag schon auf dem Elfmeter-Punkt und der Torwart war nur mal eben …): Ist es sinnvoll, den Master als Regelabschluss zu definieren?

Einiges spricht dafür, dass der Regelabschluss in Sozialer Arbeit nicht bereits der Bachelor-, sondern der Masterabschluss sein sollte.[1] Die DGSA hat eine Diskussion dazu auf dem Bundeskongress 2015 initiiert, die zuletzt auf dem Fachbereichstag Soziale Arbeit im Oktober 2022 fortgeführt wurde.

Ein einfaches Argument für den Master als Regelabschluss stellt der unproblematische Anschluss an die Bologna-Reform dar, die bereits Master-Studiengänge vorsah, wobei sich de facto nur relativ geringe Übergangsquoten entwickelten. In Deutschland beträgt das Verhältnis 90% Bachelor- zu 10% Masterstudienplätze (Meyer 2020).

In gleicher Weise dafür spricht auch die benötigte hohe Fachlichkeit angesichts der Tatsache, dass Soziale Arbeit in zentralen menschlichen Lebensbereichen agiert und vulnerable Personengruppen in Fragen der Lebensführung unterstützt. Sie trägt eine hohe Verantwortung, z.B. in der Zugangsprüfung und Steuerung von Hilfen (in der Jugendhilfe, in der Eingliederungshilfe und zunehmend auch in der rechtlichen Betreuung nach dem BGB) und muss insgesamt eine hohe Professionalität an den Tag legen. Zudem ist die Profession permanent gefordert, neue gesellschaftliche Impulse aufzunehmen, kritisch zu reflektieren und ihre eigene Professionalität weiter zu entwickeln. Dazu bedarf es einer (noch stärkeren) wissenschaftlichen Qualifikation in theoretischer, konzeptioneller, methodischer, ethischer und forschender Hinsicht. Natürlich ist die rein zeitliche Ausdehnung des Studiums kein Garant für Kompetenzerwerb, allerdings berichtet die überwiegende Anzahl der Befragten in der Masterverbleibstudie des Fachbereichstags Soziale Arbeit von eben diesem Kompetenzerwerb (Burkova et al. 2017, S. 230 ff.). Im zumeist interdisziplinären Geschehen würde die Soziale Arbeit zudem mit anderen Professionen noch stärker auf Augenhöhe agieren können und die berufliche Care-Arbeit damit aufgewertet.

Für die Wege in die Wissenschaft über die zunehmend entstehenden autonomen Promotionsprogramme an HAWs bräuchte es mehr Masterabsolvent*innen, da erst dieser Abschluss die formale Zugangsvoraussetzung zur Promotion erfüllt.

Wie die Masterverbleibstudie des Fachbereichstags Soziale Arbeit (ebd.) allerdings auch zeigt, ist der Master allerdings keineswegs ein Garant für entsprechende Tätigkeiten, eine höhere tarifliche Eingruppierung oder eine dem Abschluss entsprechende berufliche Position, z.B. in Leitungsfunktionen, der Konzeptentwicklung oder der Wissenschaft. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung in der Praxis dürfte in der „Verteuerung“ der Fachleistung liegen, was ein ebenso gewichtiges Gegenargument darstellt wie der seit längerem anhaltende Fachkräftebedarf.

Und schließlich, aber nicht abschließend, bestünde dann das Risiko einer noch stärkeren Hierarchisierung zu anderen Sozialberufen aufgrund des wachsenden Abstands zu Ausbildungsberufen, da Masterabsolvent*innen der Sozialen Arbeit dann sicher stärker oder ausschließlich in eine anleitende oder supervidierende Funktion bzw. in die Leitung von Einrichtungen und Diensten allgemein kämen.

Auch stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten eines Studienplatzausbaus bzw. der Finanzierung entsprechender Studienprogramme, die eine in der Regel deutlich höhere Lehrquote (Curricularer Normwert) nach sich ziehen würde. So könnte sich innerhalb der Hochschulen eine durchaus kritische Dynamik ergeben, wenn für die Soziale Arbeit grundsätzlich der Master als Regelabschluss gälte, es für andere Studiengänge jedoch beim Bachelor bliebe. Auf jeden Fall stellten sich Transitionsaufgaben in der Zeit, in der der Bachelor noch als berufsqualifizierender Abschluss und der Master schon als Regelabschluss gelten. In dem Zusammenhang wäre auch die staatliche Anerkennung neu zu regeln.

Im internationalen Vergleich wird zudem deutlich, dass der Master in vielen Ländern zwar überwiegend nicht den Regelabschluss darstellt, jedoch in manchen Ländern die Voraussetzung für die Registrierung (z.B. Irland) oder sogar eine Lizenzierung (z.B. in Finnland, Island und in manchen Bundestaaten der USA) ist (vgl. Weiss-Gal/Welbourne 2017). Im Vereinigten Königreich ist die Registrierung erforderlich, um beispielsweise im Kinderschutz oder in der Psychiatrie tätig zu sein. Im Sinne einer globalen Profession sollte eine solche Registrierung unter der Voraussetzung eines Masterabschlusses trotz nationalstaatlicher Rückgebundenheit international vergleichbar sein.

Unterm Strich kann festgehalten werden, dass der Masterabschluss den qualitativen Anforderungen an die professionelle Kompetenz Sozialer Arbeit besser entsprechen würde. Es kann jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar beantwortet werden, unter welchen Umständen die Forderung realisiert werden könnte und zu welchen Konsequenzen dies für die Absolvent*innen hinsichtlich eines beruflichen Aufstiegs führt.

Und was bedeutet das nun für die Zukunft? Sind Sie dabei, sich auf ein neues Gedankenspiel einzulassen? Jetzt schreiben wir das Jahr 2070. Stellen Sie sich vor, Sie wollen Soziale Arbeit studieren oder bewerben sich als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in oder Professor*in an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften oder an einem anderen Hochschultyp. Meinen Sie, dass noch irgendjemand „nur“ einen Bachelorabschluss anstrebt oder ihn als ausreichend für die heraufordernde und anspruchsvolle Praxis empfindet? Oder wird er nur ein Übergangsabschluss sein, der den Übergang in den Master markiert? In der mittlerweile etablierten Forschung in der Sozialen Arbeit arbeiten ohnehin nur noch Masterabsolvent*innen und die Promotion ist für Positionen in Lehre, Forschung, in der Verbandsarbeit und für die Leitung von Einrichtungen und Diensten schon lange normal. Wäre es da nicht folgerichtig, den Master jetzt zum Regelabschluss zu machen? Können Sie sich das vorstellen? Was halten Sie von den Argumenten dafür und den Einwänden, von den Stärken und Schwächen der oben ausgeführten Argumentation?

Oder kurz gefragt: Sind Sie Team Master als Regelabschluss oder Team Bachelor als Regelabschluss?

Prof. Dr. Dieter Röh – Co-Vorsitzender DGSA, Co-Sprecher der Sektion Klinische Sozialarbeit, Professor an der HAW Hamburg

Literatur

Burkova, O. et al. (2017): Die Masterverbleibstudie des FBTS. Ankommen im Arbeitsfeld und Bewertungen zum Studium. In: Schäfer, P. et al. (Hrsg.): 100 Jahres Fachbereichstag Soziale Arbeit. Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 225-243.

Meyer, F. (2020): Spaltungen im Projekt „Professionalisierung Sozialer Arbeit. Eine professionstheoretische Deutung anhand von Gesamtstudierendenzahlen“. In: neue praxis 50(2), 122-140.

Weiss-Gal, I.; Welbourne, P. (2017): The professionalisation of social work: a cross-national exploration. Int J Soc Welfare 2008: 17, 281-290.


[1] Ab hier entspricht der Text, bis zum letzten Absatz, einem Ausschnitt aus: Der Vorstand der DGSA (2023): Soziale Arbeit als Profession braucht eine eigene Disziplin und gute Studienbedingungen. In: Sozialmagazin, Heft 3-4 2023.


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Kommentare

2 Antworten zu „Der Master als Regelabschluss – Gedankenspiele zu einer Realutopie”.

  1. Avatar von
    Anonymous

    Je länger ich mit meinem Bachelor in der Sozialen Arbeit tätig bin, umso öfter stellt sich mir die Frage, was ich eigentlich gelernt habe. Das Arbeitsfeld ist so groß und das Studium (im Nachhinein gesehen) so kurz. Allerdings stellt sich schon die Frage: Wieso nochmal Zeit und Geld in das Aufbaustudium investieren, wenn ich danach immer noch weniger verdiene als bei Autobauer XY am Fließband?

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    1. Avatar von Dieter Röh
      Dieter Röh

      Hallo,

      vielen Dank für den Kommentar und die Fragen. Ja, das ist ein ungelöstes Problem, da damit ein systemisches Problem, nämlich die vergleichsweise (zu) niedrige Vergütung, angesprochen wird. Diese Rückmeldung würde aber jeden Masterstudiengang, ja sogar jede selbstbezahlte Fort- und Weiterbildung betreffen. Hier hilft eigentlich nur eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft bzw. einem Berufsverband, der gleichzeitig Gewerkschaft ist. In unserem Fall also dem Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH).

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