Frauen – Forschung und Professionalisierung Sozialer Arbeit

Nachdenkliches zum Aktionstag #4genderstudies am 18.12.2021

Ohne Frauen gäbe es keine Professionalisierung der Sozialen Arbeit. Ohne Frauen gäbe es keine Forschung in der Sozialen Arbeit. Ohne Frauen gäbe es keine Soziale Arbeit, die an den konkreten Lebenslagen der Menschen ausgerichtet ist und darauf zielt, prekäre Lebensverhältnisse zu überwinden.

Dass vornehmlich Frauen die Professionalisierung Sozialer Arbeit initialisiert haben, gilt inzwischen wieder als Basiswissen Sozialer Arbeit. Aber wird die historisch enge Verbindung zwischen der Praxis Sozialer Arbeit (mit dem Ziel Lösung der Sozialen Frage) und Praxisforschung hinreichend thematisiert?

Die Ausrichtung der Frauenforschung der Gründerinnen zielte darauf aus dem Feld heraus Probleme der Menschen und deren Problemlagen empirisch zu erkennen und mit ihnen gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Erst die systematischen Forschungen der Praktikerinnen und deren Deskription bildeten die Grundlage für die Entwicklung methodischen Handelns, welches bereits in den Anfängen mit politischen Forderungen verbunden wurde, um z.B. die Lebensbedingungen von Fabrikarbeiterinnen und Witwen zu verbessern. (Vgl. Braches-Chyrek 2013; Lenz/Braches-Chyrek 2022) Die Leistung der Gründerinnen Sozialer Arbeit richtete sich gegen die reine Befriedung zur Stabilisierung der männlich geprägten Herrschaftsverhältnisse. Mit ihrem Ansatz und Fokus auf die „soziale Frage“ markierten sie die gesellschaftlichen Verhältnisse als Zumutung und forderten tatsächliche gesellschafts- und sozialpolitische Veränderungen.

In Deutschland ist diese erste Phase der Professionalisierung Sozialer Arbeit mit dem Begriff der „geistigen Mütterlichkeit“ verknüpft, mit dem die Protagonistinnen eine Doppelstrategie verfolgten. Einerseits fühlten sie sich häufig als bürgerliche Frauen verpflichtet den „Armen“ zu helfen und andererseits wollten sie politisch wirksam werden, indem sie ihre Tätigkeiten als eigenständige Kulturleistung reklamierten (vgl. Stoehr 1983, S.224).Leider wird diese politische Strategie der „geistigen Mütterlichkeit“, die selbstverständlich im damaligen politischen Kontext zu verorten ist, heute in der Rekonstruktion häufig auf „Mütterlichkeit“ reduziert und somit falsch verstanden. Die Interpretation von Mütterlichkeit im Sinne eines tradierten Rollenverständnisses entledigt sich der politischen Strategie und der Verantwortung für die eigene Professionsentwicklung. Damit wird der emanzipatorische Ansatz ins Gegenteil verkehrt, Praxis auf Fürsorge gegenüber Klient*innen fokussiert und Soziale Arbeit entfaltet damit eine naturalistisch angehauchte stereotypisierende Wirkung.

Die Geschichte ist bekannt:

Die Ergebnisse der von Frauen initiierten und durchgeführten Forschungen konnten die gesellschaftlichen Bedingungen sozialer Ungleichheit aufzeigen und die damals verbreitete These der selbstverantworteten Not widerlegen. Sozialpolitische Forderungen konnten in vielen kontroversen Prozessen durchgesetzt werden.

Mit dem Nationalsozialismus wurden diese Forschungstraditionen in Deutschland abgebrochen und Soziale Arbeit als Volksfürsorge instrumentalisiert. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf die Verbindung von Forschung und Praxis nicht zurückgegriffen.

Stattdessen bildeten beide Bereiche getrennte Sphären und die Frauen wurden unsichtbar. Auch mit der Bildungsreform in den 1970er Jahren veränderte sich die Distanz zwischen Forschung und Praxis nicht. Beide Bereiche standen sich quasi skeptisch gegenüber, wobei sich in der Forschung ein Überlegenheitsdenken etablierte, welches die Praxis als Feld unzureichender Theorieanwendung betrachtete (vgl. Kromrey 1998, S.16f). Dagegen verortete die Praxis Sozialer Arbeit (vorwiegend Frauen) die empirische Sozialforschung (vorwiegend Männer) im „wissenschaftlichen Elfenbeinturm“. Zudem wurden Frauen mit der Gründung der Fachhochschulen als Ausbilderinnen für Soziale Arbeit zurückgedrängt. Männer übernahmen auch in der Praxis häufig Leitungspositionen. So wurden und werden i.d.R. die Leitungspositionen mit 2/3 Männern und 1/3 Frauen besetzt, während sich das Verhältnis an der Basis unter den Mitarbeitenden umgekehrt zusammensetzt aus ca. 2/3 Frauen und 1/3 Männer (vgl. Lenz 2000).

Auch heute zeigt sich, dass die Professionellen der Sozialen Arbeit immer noch nicht an das alte Selbstverständnis der Gründerinnen mit einer engen Verzahnung zwischen Frauen-Forschung und Professionsentwicklung in der Praxis Sozialer Arbeit anknüpfen können. Es gilt das emanzipatorische Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ als politische Leistung zu würdigen und die Grundideen heute wieder transformiert in dem aktuellen Bedingungsgefüge Sozialer Arbeit aufzugreifen. Heute wie damals gilt es, sich gegen Zumutungen männlich geprägter Strukturen zu wehren, die auf reine Befriedung und Macherhalt fokussieren. Gleichzeitig gilt es der bezugswissenschaftlichen Dominanz, die sich hartnäckig seit den 1970er Jahren behauptet, mit einer selbstbewussten Antwort aus der Sozialen Arbeit heraus zu begegnen.

Wir brauchen nach wie vor eine selbstbewusste Praxisforschung, die in der Lage ist Zumutungen aufzudecken und gemeinsam mit Betroffenen in der Sozialen Arbeit Lösungen zu entwickeln. 

Prof. Dr. Gaby Lenz – Fachhochschule Kiel, Mitglied der Fachgruppe Gender in der Sozialen Arbeit der DGSA

Literatur

Lenz, Gaby; Braches-Chyrek (2022): Von der Praxis in die Forschung und wieder zurück – Wechselspiel von Armutsforschung und Professionsentwicklung Sozialer Arbeit. In: Marquardsen, Kai: Armutsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden Baden: Nomos

Braches-Chyrek, Rita (2013): Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon: Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich.

Kromrey, Helmut (1998): Empirische Sozialforschung. 8. Aufl. Opladen: Leske & Budrich.

Lenz, Gaby (2000): Frauenansichten in der administrativen Sozialen Arbeit. Eine empirische Untersuchung zu frauenspezifischen Perspektiven von Sozialarbeiterinnen im Allgemeinen Sozialen Dienst. Bielefeld: Kleine Verlag.

Stoehr, Irene (1983): „Organisierte Mütterlichkeit“: Zur Politik der Deutschen Frauenbewegung um 1900. In: Hausen, Karin (Hrsg.): Frauen suchen ihre Geschichte. München: C.H. Beck, S. 221–242.


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