Margrit Brückner
Sexualität im Sinne einer libidinös besetzten leiblichen Anziehungskraft ist ein zentraler Aspekt menschlichen Lebens, der in der Sozialen Arbeit jedoch oft nur im Kontext von Schutz und Gewalt thematisiert wird. Historisch war die Profession vor allem mit der Kontrolle und Regulierung von Sexualität beschäftigt, insbesondere in Bezug auf Frauen und Mädchen. So setzte sich Berta Pappenheim, eine Pionierin der Sozialen Arbeit, Anfang des 20. Jahrhunderts für den Schutz junger Frauen ein, gleichzeitig kritisierte sie die bürgerliche Doppelmoral scharf, die Frauen kein Recht auf den eigenen Körper zugestand, Männern hingegen sexuelle Inbesitznahme von Frauen ermöglichte. In der Geschichte der Sozialen Arbeit spielten aber auch sexuelle Entgrenzungen z.B. in sozialen und pädagogischen Einrichtungen eine Rolle: von einer sexualisierten Umsetzung des „pädagogischen Eros“ in hierarchisch konzipierten, männlichen Schüler-Lehrerverhältnissen in den 1920er Jahren bis zur Pädophilen-Bewegung der 1970er Jahre, die sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern als „Befreiung“ propagierte, kindliche Sexualität mit Erwachsenensexualität gleichsetzte und missbräuchlich ausnutzte.
Seit den 1980er Jahren dominieren Diskurse über sexuelle Gewalt, die insbesondere durch die Kämpfe der zweiten Frauenbewegung und die Kinderschutzbewegung gesellschaftlichen Einfluss gewannen. Heute steht Sexualität weiterhin im Zentrum gesellschaftlicher Kontroversen: Während queere Bewegungen Vielfalt und Selbstbestimmung fordern, reagieren konservative und rechte Milieus zunehmend mit Abwehr und Kontrolle – etwa hinsichtlich Sexualpädagogik in Schulen. Die Sexualforschung setzt dem ein Verständnis sexueller und geschlechtlicher Diversität entgegen. Queer-Theorien stellen die binäre Geschlechterordnung infrage und betonen die Durchlässigkeit sexueller Identität. Diese Kontroversen zeigen, wie tief Sexualität in gesellschaftliche Machtverhältnisse und patriarchale Geschlechterordnungen eingebettet ist. Für Soziale Arbeit bedeutet das, sich mit der komplexen Verflechtung von Geschlecht, Sexualität und Machtverhältnissen kritisch auseinanderzusetzen, um eine Sensibilisierung für die Vielfalt von Geschlechter- und Sexualitätsidentitäten zu ermöglichen und in professionellen Handlungen zu berücksichtigen.
Als Leitlinie für eine menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit kann die World Health Organisation, eine Unterorganisation der UNO, herangezogen werden. Die WHO bezeichnet auf ihrer Website Sexualität und sexuelle Gesundheit als Teil menschlicher Identität und Lebensweise einschließlich sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Um das zu erreichen, benennt sie vier Voraussetzungen, die sich als Aufgabenbereiche Sozialer Arbeit verstehen lassen: Information, Kenntnis sexueller Risiken, Zugang zu unterstützenden Einrichtungen und eine sexuelle Gesundheit ermöglichende Lebensumwelt. Zu deren Umsetzung bedarf es der Kenntnisse über – gesellschaftlichem Wandel unterliegende – sexuelle Lebensformen aller Geschlechter und sexueller Orientierungen, einer Analyse der Einbindung des Sexuellen in die jeweiligen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und last not least der Reflexionsmöglichkeiten des eigenen sexualitätsbezogenen Selbstverständnisses.
Ein sicherer Umgang mit der eigenen Sexualität und sexuellen Haltung verlangt neben Räumen für Reflexion, ethische Prinzipien und disziplinäre Diskurse – nicht nur zur Gewaltprävention, sondern auch zur Förderung einer sexuellen Haltung, die Begehren als Teil menschlicher Leiblichkeit bejaht, einschließlich des Wissens um eigene Grenzen und die Grenzen Anderer. Studierende der Sozialen Arbeit zeigen laut einer Studie von Johannes Jungbauer u.a. (2020) Interesse an sexualpädagogischen Veranstaltungen, doch die Verankerung in der Lehre bleibt oft hinter den Bedürfnissen zurück.
In der Praxis begegnen Sozialarbeiter*innen Adressat*innen in körperlich und emotional nahen Situationen, ob in der Jugendhilfe, im Pflegeheim oder in Behinderteneinrichtungen. Dabei ist die Beachtung von Grenzen ebenso wichtig wie die Offenheit für geäußerte oder gezeigte sexuell konnotierte Bedürfnisse der Adressat*innen. Hilfreich dafür ist sowohl die Entwicklung der Fähigkeit, eigene sexualitätsbezogene Empfindungen wahrzunehmen, ohne sie auszuleben als auch die Fähigkeit vor allem Jugendliche in ihren sexualitätsbezogenen Ausdruckformen und Wünschen zu begleiten. Die Zürcher Jugendarbeiterin Sandra Schäfer nennt das „Ent-Schamung“: über Sexualität zu sprechen, ohne sie zu tabuisieren oder zu instrumentalisieren. Eine enttabuisierende Haltung für sich selbst und für die Adressat*innen einzunehmen und gleichwohl gute Grenzen zu ziehen, ist angesichts der Beziehungsorientierung Sozialer Arbeit und vieler Handlungssituationen mit körperlicher und sozialer Nähe nicht einfach. Da sich Soziale Arbeit vorwiegend mit Menschen in Problemlagen beschäftigt, bleibt es schwierig, einerseits Prostitution, Frauenhandel, Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch, Teenagerschwangerschaften, sexuelle Übergriffe in Partnerschaften und digitale sexuelle Gewalt und andererseits eine Erotik und Sexualität bejahende sexuelle Bildung für alle Geschlechter in die Arbeit einzubeziehen, d.h. beides in der eigenen professionellen Haltung auszubalancieren. Eine solche Balance zu wahren ist vielmehr eine anspruchsvolle sozialarbeiterische Aufgabe.
Daher stellt sich die Frage: Was wollen wir, die im Bereich Sozialer Arbeit Tätigen, an sexuellen Haltungen in der Profession und in der Hochschule weitergeben und wofür wollen wir in den Augen der Studierenden und der Adressat*innen bezogen auf Sexualität stehen? Mit der Menschenwürde vereinbare Bandbreiten sexueller Verhaltensweisen und Lebensformen müssen immer wieder neu ausgelotet werden, da sich mit den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmungen auch die Vorstellungen menschlicher Würde und deren Verletzung wandeln.
Alle Menschen sollten auf der Basis von Beziehungserfahrungen Vorstellungen über zwischenmenschliche Sexualität entwickeln können, die für sie selbst erfüllend sind und sie sollten Chancen haben, den eigenen Körper als Quelle von Lust zu erkunden. Dazu gehört eine ethisch fundierte gesellschaftliche Gestaltungsweise, auch wenn das Sexuelle nur begrenzt steuerbar ist und unbewussten Prozessen und Dynamiken unterliegt.
Autorin:
Brückner, Margrit, Prof. (i.R.) Dr. phil. habil., Dipl. SD3G) und Supervisorin (DGSv), Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, bis 2012 Professur für Soziologie, Frauenforschung und Supervision. Forschungsschwerpunkte: Geschlechterverhältnisse, Gewalt gegen Frauen, Frauen- und Mädchenprojekte, das Unbewusste in Institutionen, Internationale Care-Debatte. Heute tätig als Lehrbeauftragte, Weiterbildnerin und Supervisorin.
Hinterlasse einen Kommentar