Über das Zerbrechen der Menschlichkeit an der polnisch-belarusischen Grenze

Anna Kasten

An der polnisch-belarusischen Grenze manifestiert sich das systematische Zerbrechen von Menschlichkeit – ein Prozess, den ich anhand vier ineinandergreifender Praktiken diskutiere: der Deutungskämpfe, des Mauerbaus, der Kriminalisierung humanitärer Hilfe und der Aussetzung des Asylrechts. Mit Rückgriff auf Hannah Arendt und Judith Butler verstehe ich Menschlichkeit als Ausdruck solidarischen Handelns im Zusammenhang mit globaler Verantwortung. Und damit auch als eine der zentralen Aufgaben und Grundhaltungen Sozialer Arbeit. Die Analyse zeigt, wie politische Narrative, physische Grenzinfrastruktur, staatliche Repressionen und rechtliche Maßnahmen zusammenspielen, um Geflüchteten ihre Würde zu entziehen. Diese Vorgänge sind keine isolierten Erscheinungen, sondern Ausdruck einer politischen Matrix, die Menschlichkeit systematisch untergräbt und symptomatisch für eine sich wandelnde europäische Grenzpolitik steht.

Arendt versteht Menschlichkeit als untrennbar mit Solidarität gegenüber dem Leid anderer verbunden – ein Streben nach Gerechtigkeit im Angesicht von Not. Butler ergänzt, dass das als menschlich Anerkannte durch rassistische und ethnische Rahmungen bestimmt ist. Die Herausforderung bestehe darin, ein umfassenderes Verständnis des Menschlichen zu entwickeln – eines, das globale Verbundenheit ernst nimmt. Dieser Essay unternimmt nicht den Versuch, eine solche Definition zu liefern. Er legt jedoch offen, welche Praktiken zum Zerbrechen der Menschlichkeit beitragen.

Ein Schlaglicht auf Menschlichkeit wirft die Gemeinde Michałowo nahe der Grenze Polens zu Belarus: Bei Feierlichkeiten 2022 wurde dort der Slogan „Menschlichkeit ohne Grenzen“ aufgegriffen. Die Gemeinde entwickelte in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen legale Unterstützungsstrukturen für Geflüchtete, die über Belarus nach Polen kamen. Die Reportage von Szymon Opryszek dokumentiert eindrücklich, wie Menschen systematisch an dieser Grenze entmenschlicht wurden.

Meine Überlegungen haben sowohl normativen als auch analytischen Charakter: normativ, weil jede Flüchtlingspolitik die Würde des Menschen wahren muss; analytisch, weil vier Praktiken identifizierbar sind, die diese Würde gezielt untergraben. Sie greifen ineinander und bilden ein repressives Gefüge, das Menschlichkeit nicht nur verdrängt, sondern aktiv zerstört. Als analytische Kategorie wirkt „Menschlichkeit“ vage. Sie ist schwer definierbar, unscharf, und entzieht sich klaren Grenzen. Doch gerade angesichts extremer Gewaltpraktiken bleibt der Verweis auf Menschlichkeit notwendig – als Bezugspunkt für das Mensch-Sein an sich.

Die Praktik des Deutungskampfes: Zwischen Militarisierung, FluchtMigration und humanitärer Krise

Seit Sommer 2021 ist die polnisch-belarusische Grenze eine zentrale Fluchtroute. Drei dominante Narrative prägen ihre politische und mediale Beschreibung: „hybrider Angriff“, „Migrationskrise“ und „humanitäre Krise“. Das erste Narrativ beschreibt Geflüchtete als Mittel eines politischen Angriffs des belarusischen Regimes – als Vergeltung für EU-Sanktionen und westliche Unterstützung der belarusischen Demokratiebewegung. Dieses Framing legitimiert die Militarisierung der Grenzregion wie Jens Adam, Hagen Steinhauer und Shalini Randeria in ihrer Analyse herausgearbeitet haben. Das zweite Narrativ – die „Migrationskrise“ – stellt Flucht als Ausnahmezustand dar. Migration erscheint hier nicht als menschliches Grundrecht, sondern als Bedrohung. Flucht und Migration werden vermischt und als Problem dargestellt. Das dritte Narrativ – die „humanitäre Krise“ – verweist auf die systematische Aussetzung des Asylrechts, auf Pushbacks und das Überleben in den Grenzwäldern. Es benennt die Not, ohne Geflüchtete zu stigmatisieren. Wer die Grenze überwindet, lebt oft wochenlang im Wald – ohne Nahrung, Kleidung oder medizinische Versorgung. Laut Ärzt*innen ohne Grenzen reichen die gesundheitlichen Folgen von Erfrierungen bis zum Tod. Zwischen Sommer 2021 und Juli 2024 wurden 130 Todesfälle dokumentiert, 93 Leichen bis April 2025 geborgen. Mehr als 300 Menschen gelten als vermisst (Stand: Juni 2024). Das dominante Narrativ vom hybriden Angriff überlagert die humanitäre Perspektive. Statt Hilfe steht Sicherheitspolitik im Vordergrund. Demonstrationen gegen Migration, wie jene unter dem Slogan „Stoppt die Einwanderung“ vom 19. Juli 2025 in 80 polnischen Städten, unterstreichen diese Tendenz – begleitet von rassistischen Parolen, aber auch Gegendemonstrationen.

Die Wahl des Narrativs bestimmt politische Maßnahmen. Die Ausblendung der humanitären Krise verdrängt Solidarität; die Betonung des hybriden Angriffs fördert Militarisierung; das Framing als Migrationskrise macht Migration zum Problem. Nur das humanitäre Narrativ verlagert den Fokus auf die Notlage – nicht auf die Geflüchteten als Gefahr.

Die Praktik des Mauerbaus: Materialisierte Entsolidarisierung

In der Mauer materialisiert sich die Entsolidarisierung mit den Menschen, die im Wald festgehalten werden. Im September 2021 erließ der damalige Präsident Polens Andrzej Duda auf Ersuchen des Ministerrats eine Verordnung, die den 30-tägigen Ausnahmezustand in Teilen der Woiwodschaften Podlachien und Lublin einführte. Dieser wurde immer wieder verlängert und dauerte bis Juni 2022. Damit wurden viele Rechte wie z.B. das Recht auf Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt. Der Zugang zum Grenzgebiet für Presse, für Wissenschaft und für NGO‘s wurde verunmöglicht. Innerhalb von fünf Monaten wurde im Jahr 2022 in der Zeit des Ausnahmezustands die Mauer an der Polens Grenze zu Belarus errichtet. Die Mauer ist 5,5 Meter hoch, oben mit einem Klingendraht versehen und erstreckt sich über eine Länge von 186 km entlang der polnisch-belarusischen Grenze. Die offiziellen Begriffe für die Mauer lauten „Barriere“, „Sperre“ oder „Sicherung der Staatsgrenze“ – sprachliche Verschleierungen eines hochgerüsteten Grenzregimes. Die Baukosten betrugen 1,6 Mrd. PLN (ca. 376 Mio. Euro). 2024 wurde die elektronische Überwachung weiter ausgebaut. Die Kosten beliefen sich auf ca. 125 Mln. PLN (ca. 29 Mln. Euro).

Diese Investitionen demonstrieren nicht Schutz, sondern symbolische Souveränität. Wenn man bedenkt, dass es Menschen sind, die diese Grenze überqueren, erstaunt diese Aufrüstung in Form der Mauer und der gesamten Infrastruktur umso mehr. Mit der Mauer stellt der Staat, schreiben Sabine Hess und Jens Adam, seine poröse Souveränität zur Schau, weil die Mauer die FluchtMigrationsroute über Belarus in die EU nicht geschlossen hat. Mit den Worten von Wendy Brown drücken Mauern die Phantasien der Undurchlässigkeit aus, Phantasien, die den Anschein erwecken sollen, dass die Grenze unüberquerbar gemacht worden ist.

Das in Grenzinfrastruktur investierte Kapital zeigt: Es mangelt nicht an Ressourcen – wohl aber am politischen Willen, diese in menschenwürdige Aufnahme, Integration und Unterstützung von Geflüchteten zu lenken.

Die Praktik der Kriminalisierung der Hilfe: Solidarität unter Strafe

Die humanitäre Hilfe an der polnisch-belarusischen Grenze wird kriminalisiert. Geleistet wird sie von aktivistischen Gruppen wie z.B. Grupa Granica (Grupa Granica ist ein Zusammenschluss verschiedener NGOs), Fundacja Ocalenie, Klub Inteligencji Katolickiej, Kolektyw Szpila, Podlaskie Ochotnicze Pogotowie Humanitarne POPH. Die Organisationen und Kollektive arbeiten mit der Zivilbevölkerung zusammen. Während des Ausnahmezustands war der Zugang zu den Menschen im Wald für Helfer*innen kaum möglich. Staatliche Hilfe für Geflüchtete an der polnisch-belarusischen Grenze liegt in der Verantwortung des Grenzschutzes. Bei der humanitären Hilfe handelt es sich um die Sicherstellung des Zugangs zu Lebensmitteln, Wasser, sauberer Kleidung, medizinischer Versorgung oder Unterstützung bei der Beantragung von Asyl. Für die Hilfeleistung drohen den Helfenden Geldstrafen oder Repressalien durch Grenzschutzbeamt*innen oder Gefängnis. Im Bericht der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte wurden unter anderem folgende Repressionen gegenüber den Helfenden dokumentiert (Stand Juni 2022): Vorwurf der Organisation oder der Beihilfe zur Organisation eines illegalen Grenzübertritts, Anträge der Staatsanwaltschaft auf vorläufige Festnahme (die Gerichte gaben keinem dieser Anträge statt), Festnahme und Bestrafung von Journalist*innen, die in der Nähe des Ausnahmezustandsgebiets ihrer Arbeit nachgingen (letztendlich vom Obersten Gerichtshof freigesprochen), Geldstrafen zwischen 20 und 500 PLN (zwischen 5 und 120 Euro) wegen Betretens des Ausnahmezustandsgebiets zum Zweck der Hilfeleistung.

Für die geleistete Hilfe werden Aktivist*innen unter anderem wegen Unterstützung von Menschenschmuggel angeklagt. Die wichtigste Einschränkung in solchen Gerichtsverfahren ist die Situation der Angeklagten, d.h., dass deren begangene Handlungen ein Ausdruck von Widerstand gegen die dem Grenzregime innewohnende Gewalt und Ungerechtigkeit darstellen. Die aktuelle Regierung unter der PO-Führung setzt damit die von der vorherigen Regierung unter der Führung der PiS-Partei eingeleitete Linie der Strafanzeigen gegen Aktivist*innen fort. Den staatlichen Repressionen zum Trotz ist an der polnisch-belarusischen Grenze eine anti-repressive Gruppe erfolgreich tätig, die Aktivist*innen juristische, psychologische und soziale Unterstützung leistet.

Politischer Aktivismus in Polen formiert sich im Zeichen grenzüberschreitender Solidarität – einer „Globalisierung von unten“ (Stuart Hall). Wer in den Wald geht, um zu helfen, riskiert Verfolgung, weil er sich für Menschlichkeit einsetzt.

Die Praktik der Aussetzung des Rechts auf Asyl: Legalisierung der Unmenschlichkeit

Das Recht auf Schutz vor Verfolgung ist in der polnischen Verfassung verankert. Mit dem Inkrafttreten der Verordnung am 27. März 2025 wurde das Recht auf Asyl für die Dauer von 60 Tagen ausgesetzt. Ausgenommen davon sind: unbegleitete Minderjährige; schwangere Personen; Personen, die aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustands einer besonderen Behandlung bedürfen; Personen, bei denen nach Auffassung des Grenzschutzes Umstände darauf hindeuten, dass sie in dem Land, aus dem sie direkt nach Polen eingereist sind, der Gefahr ernsthafter Schäden ausgesetzt sind; Staatsangehörige eines Landes, das Instrumentalisierung ausübt und aus dessen Hoheitsgebiet Ausländer*innen nach Polen einreisen. Im Mai 2025 hat der Sejm der Verlängerung der Aussetzung des Rechts auf Asyl zugestimmt. Bereits der Gesetzesentwurf zur Aussetzung des Asylrechts zog kritische Stellungnahmen unter anderem von folgenden Akteur*innen nach sich: dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), dem Menschenrechtsbeauftragten, dem Kinderbeauftragten, der Nationalen Kammer der Rechtsberater, dem Obersten Anwaltsrat und der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte. Kritisiert wurde, dass der Gesetzesentwurf zu den von Polen ratifizierten internationalen Verträgen im Widerspruch stehe. Das Gesetz, das das Asylrecht regelt, führt den Begriff der Instrumentalisierung ein. UNHCR wies auf den Grundsatz des non refoulement, der Nichtzurückweisung, hin, der besagt, dass der Grundsatz auch die Situationen der sog. Instrumentalisierung – der Nutzung von Menschen als Waffen – umfasst, d.h. die Geflüchteten dürfen nicht an den Ort zurückgeschickt werden, an dem sie Verfolgung oder Gefahr ausgesetzt sind. Der Oberste Anwaltsrat kritisierte, dass bei Anwendung einer eventuellen Einschränkung des Zugangs zum Asyl das Prozedere, das das grundsätzliche Recht auf Schutz regelt, nicht gesichert ist. Human Rights Watch macht auf die Formalisierung der anhaltenden rechtswidrigen und aggressiven Pushbacks im Rahmen der Aussetzung des Rechts auf Asyl aufmerksam. Wie diese Formalisierung nach dem Inkrafttreten des Gesetzes aussieht, beschreibt die Meldung der Journalistin Regina Skibińska von OKO.press, die als Grundlage eine Meldung des polnischen Grenzschutzes nimmt: im Juli 2025 wurde ein Migrant in die Notaufnahme in Białystok eingeliefert und dann anschließend über den Zaun nach Belarus zurückgebracht. Die Grenzschutzbeamt*innen sind zur Prüfung des Anspruchs auf Asyl berechtigt. Human Rights Watch weist darauf hin, dass die Grenzschutzbeamt*innen für solche Entscheidungen weder ausgebildet noch ausgerüstet seien, da diese Aufgabe in die Zuständigkeit der polnischen Ausländerbehörde falle und berichtet über Fälle, wo der Grenzschutz die Asylanträge ignoriert habe.

Durch die Aussetzung des Rechts auf Asyl wird die menschenrechtsorientierte Asyl- und Migrationspolitik in Polen mit Zustimmung des polnischen Parlaments außer Kraft gesetzt. Der rechtspopulistisch-autoritäre Staatsumbau unter der PiS-Regierung, den Sabine Hess beschreibt, die Aushöhlung des Rechtsstaates und die Legitimation des Abbaus von Rechten für die in Not geratenen Menschen auf dem Weg wird unter der PO-Regierung im Bereich der Grenzpolitik fortgesetzt.

Die Matrix des Zerbrechens der Menschlichkeit – und die Rolle der Sozialen Arbeit

Die vier Praktiken – Deutungskampf, Mauerbau, Kriminalisierung von Hilfe, Aussetzung des Asylrechts – bilden eine Matrix, in der Menschlichkeit systematisch zerbricht. Der Deutungskampf schafft Narrative, die Schutzsuchende entmenschlichen. Der Mauerbau materialisiert diese Entmenschlichung. Die Kriminalisierung der Hilfe unterbindet solidarisches Handeln und durch die Aussetzung des Asylrechts wird diese Entsolidarisierung rechtlich legitimiert. Diese Praktiken stützen und verstärken sich gegenseitig. Sie stehen sinnbildlich für eine Politik, die nicht nur Menschen ausschließt, sondern auch zentrale Werte wie Mitgefühl, Würde und Menschlichkeit preisgibt. An der polnisch-belarusischen Grenze zeigt sich eine tiefgreifende Krise des Menschlichen selbst.

Dabei drängt sich die Frage auf, was das Zerbrechen der Menschlichkeit an der polnisch-belarusischen Grenze mit der Theoretisierung Sozialer Arbeit in Deutschland zu tun hat? Es soll einen Paradigmenwechsel in der Sozialen Arbeit anregen: von einer Sozialen Arbeit, die versucht, soziale Probleme zu lösen, hin zu einer Sozialen Arbeit, die in globale Ungerechtigkeiten interveniert, sich als Akteurin struktureller Veränderung etabliert und sich politisch einmischt. Mit diesem Paradigmenwechsel rückt der normative Charakter der Sozialen Arbeit stärker in den Fokus und damit auch die Frage, wie die Profession der Sozialen Arbeit konzeptualisiert werden kann, um sich für eine offene, plurale und an sozialer Gerechtigkeit ausgerichtete Gesellschaft einzusetzen.



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