Von Claudia Steckelberg — Eigentlich ist alles gesagt. Vor sechs Tagen hat das Bundeskriminalamt das Lagebild zu geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen veröffentlicht. In 2023 wurden 360 Mädchen und Frauen getötet, weil sie Mädchen und Frauen sind und die Statistik erfasste insgesamt 938 versuchte oder vollendete Tötungsdelikte gegen Mädchen und Frauen. Die Zahlen, die das BKA vorgelegt hat, sind erschütternd, dabei wird davon ausgegangen, dass das Dunkelfeld sehr groß ist, weil die Fälle, von denen die Polizei keine Kenntnis hat, nicht in der Statistik auftauchen (Lagebild zu Straftaten gegen Frauen und Mädchen 2023). Gleichzeitig zeigt die bundesweite Frauenhaus-Statistik, dass die etwa 7.700 Plätze in Frauenhäusern bei weitem nicht ausreichen. Die Bundesregierungen haben es seit 2018 versäumt, die von Deutschland unterzeichnete Istanbul Konvention umzusetzen und allen gewaltbetroffenen Mädchen und Frauen niederschwellig und diskriminierungsfrei spezialisierte Unterstützung anzubieten. Dafür müssten 21.000 Plätze in Frauenhäusern zur Verfügung stehen und Angebote für Kinder und Jugendliche in Frauenhäusern finanziert werden (Bundesweite Frauenhaus-Statistik 2023). Die Forderungen liegen seit Jahren differenziert und fundiert begründet auf dem Tisch.
Spätestens nach Veröffentlichung der Zahlen durch das BKA würde man annehmen, dass jetzt gehandelt wird, dass ein Aufschrei, eine Protestwelle durch die Gesellschaft geht, dass gefragt wird, was zu tun ist, wenn eine Hälfte der Gesellschaft täglich bedroht ist von Gewalt durch die andere Hälfte der Gesellschaft. Seit Jahren machen eine Vielzahl von Akteur*innen aus der Wissenschaft, der Justiz, der Sozialen Arbeit auf die dramatischen Zustände aufmerksam. Christina Clemm und Asha Hedayati haben aus ihrer Arbeit als Rechtsanwältinnen in mehreren Büchern ausgeführt, wie Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, systematisch im Stich gelassen werden: vom sozialen Umfeld, den Jugendämtern, der Justiz und der Strafverfolgung, wie systematisch verhindert wird, dass sie sich aus den Gewaltverhältnissen befreien können (Clemm, Christina 2024: Gegen Frauenhass. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn | Hedayati, Asha 2023: Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt. Rowohlt Verlag: Hamburg).
Aber es verändert sich so gut wie nichts. Und wenn alles gesagt ist, die Fakten auf dem Tisch liegen und nichts passiert, ist Sprachlosigkeit und Erschöpfung die Folge. Mareike Fallwickl entwirft in ihrem Roman Und alle so still ein Szenario, in dem Frauen gegen die alltäglichen Zumutungen protestieren, in dem sie sich still gemeinsam mit anderen auf die Straße legen, ein stummer Protest, ohne Transparente, ohne Sprechchöre. Das ist nicht das Ergebnis einer Suche nach einer effizienten Protestform, sondern Ausdruck ihrer Erschöpfung:
„Die Welt weiß genau, was das Problem ist. Wir wollen nicht mehr sagen müssen, dass Frauen auch Menschen sind.“ sagt eine der Protagonistinnen.
Die Frauen verlassen die Orte, an denen sie leben, an denen sie Care Arbeit verrichten, an denen sie privat und beruflich für andere sorgen, an denen sie alltägliche Gewalt erfahren. Und es wird auch deutlich, dass es eigentlich keine anderen Orte gibt und dass der stille Protest und das Verlassen der Orte nicht hingenommen wird und mit Gewalt beantwortet wird. (Fallwickl, Mareike 2024: Und alle so still. Rowohlt Verlag: Hamburg).
Eigentlich ist alles gesagt. Und trotzdem kann man nicht aufhören zu sprechen. Soziale Arbeit beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, wie sie konzeptionell und methodisch gegen häusliche Gewalt aktiv sein kann. Mit dem gemeinwesenorientierten Ansatz StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt beispielsweise hat Sabine Stövesand einen entscheidenden Ansatz entwickelt, der über den Einzelfall hinaus auf Netzwerkarbeit, Bildung und Aktivierung in den Stadtteilen setzt und damit Prävention, Intervention und politische Aktion umsetzt (Link zu StoP).
Es gibt ein paar Aspekte, die mir in Diskussionen zu häuslicher Gewalt an der Hochschule und anderen (fach-)öffentlichen Diskursen immer wieder auffallen:
- Die häufigen Fragen danach, was in den Biografien der betroffenen Frauen schiefgelaufen ist, dass sie sich „so einen“ Partner suchen und warum sie den gewalttätigen Partner nicht oder nicht sofort verlassen, befördern Vorurteile und Schuldzuweisungen, aber keine hilfreichen Antworten. Frauen suchen sich einen Partner und keinen gewalttätigen Partner. Von Gewalt betroffen zu sein ist keine Entscheidung, Gewalt auszuüben schon. Die Entscheidung, den Partner zu verlassen, bedeutet vielfach auch die Entscheidung für Armut, Wohnungslosigkeit und das Risiko, das Sorgerecht für die Kinder zu verlieren. Und: den Partner zu verlassen ist in vielen Fällen ebenso lebensgefährlich, wie bei ihm zu bleiben. Häusliche Gewalt endet nicht auf magische Weise, wenn die Frau die Haustür hinter sich zuzieht. Tötungsversuche werden auch von verlassenen Partnern ausgeübt.
- Häusliche Gewalt muss aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet werden. Klassistische Stereotype verhindern, dass häusliche Gewalt in gut situierten Kreisen wahrgenommen wird. Sie verhindern aber auch, dass Frauen in Armut und Wohnungslosigkeit Unterstützung gegen Partnergewalt erhalten, weil wohnungslose Menschen als weniger glaubhaft oder schützenswert angesehen werden. Trans Frauen erleben sexistische Gewalt ebenso wie transfeindliche Diskriminierung, durch die ihnen frauenspezifische Hilfen häufig verweigert werden. Von Rassismus betroffene Frauen erfahren neben häuslicher Gewalt auch staatliche Gewalt, insbesondere dann, wenn sie keine deutsche Staatsbürgerschaft haben und ihre Rechte und Handlungsspielräume deutlich eingeschränkt sind, bis hin zur drohenden Deportation.
Die politischen Entwicklungen lassen vermuten, dass es in den kommenden Jahren unter rechtskonservativen Regierungen immer schwerer werden wird, strukturelle Kritik am Geschlechterverhältnis sichtbar zu machen und Einrichtungen und Konzepte gegen häusliche Gewalt finanziert zu bekommen. Vielleicht sollten wir den Blick zurückwenden und uns anschauen, wie die Pionier*innen der autonomen Frauenhäuser es vor mehr als 50 Jahren geschafft haben, das Thema auf die Agenda zu bringen, welche politischen Aktionen und Strategien sie genutzt haben. Vielleicht können wir uns daraus inspirieren lassen, wie in widrigen Zeiten Räume geschaffen und Unterstützung ermöglicht werden, wie solidarisches Handeln gelingen kann.
Denn eigentlich ist noch längst nicht alles gesagt.
Prof. Dr. Claudia Steckelberg — Professorin an der Hochschule Neubrandenburg und Co-Vorsitzende der DGSA
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