Kommentar zur Ankündigung im Eckpunktepapier der Hessischen Koalition, den Verzicht auf Sonderzeichen in staatlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen verordnen zu wollen – von der Sektion Gender- und Queer Studies der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit
Im Eckpunktepapier zu den Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD zum zukünftigen Regierungsprogramm im Land Hessen heißt es unter der zehnten und letzten Kapitelüberschrift „Freiheit und Generationengerechtigkeit“:
„Wir bekennen uns zum Leitbild des mündigen Bürgers. Das bedeutet für uns: Anreize statt Verbote, Beteiligung statt Bevormundung und Entlastungen statt Belastungen. Gleichzeitig werden wir festschreiben, dass in staatlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen (wie Schulen, Universitäten, Rundfunk) auf das Gendern mit Sonderzeichen verzichtet wird und eine Orientierung am Rat der deutschen Sprache erfolgt.“
Die Sektion Gender- und Queer Studies der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) äußert sich zu den Vorkommnissen in Hessen, weil dem Vorhaben der sich neu aufstellenden Regierungskoalition eine Signalwirkung zukommt, die über die hessischen Landesgrenzen weit hinaus geht. Schließlich gibt es in einigen anderen Bundesländern ähnlich gerichtete Initiativen.
Debatten um eine geschlechtergerechte Sprache sind nicht neu. Bereits in den 1970er Jahren gab es Auseinandersetzungen dazu, ob das in der deutschen Sprache bis dahin übliche generische Maskulinum noch zeitgemäß ist und der weibliche Anteil der Bevölkerung nicht ebenfalls sprachlich sichtbar gemacht werden muss. Trotz heftiger Kontroversen etablierte sich in vielen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen die Praxis der zweigeschlechtlichen Nennung bei Personenbezeichnungen.
Derzeit befinden wir uns auf einer neuen Stufe genderkritischer Sprachreflexion. Ausgelöst wurde dies durch die Kritik von Menschen, die sich mit den binären Geschlechterbezeichnungen nicht identifizieren, und die wachsende Anerkennung des Wissens, dass menschliches Leben weit mehr Geschlechtlichkeiten umfasst als die sprachlichen Kategorien von ‚Frau‘ und Mann‘ fassen können. Damit einher gehen sprachliche Bemühungen, diese Geschlechtervielfalt auch benennbar und sichtbar zu machen. Verschiedene Varianten des sogenannten Binnenzeichen sind gebräuchlich geworden: Unterstrich, Doppelpunkt oder der Stern zur Markierung des Unbestimmten zwischen dem ‚Männlichen‘ und dem ‚Weiblichen‘. Der Vorwurf, dass hiermit die deutsche Sprache verunstaltet und unsprechbar werde, verbirgt, worum es hierbei geht: die Sensibilisierung für die in Sprache eingegossene binäre Geschlechterhierarchie und deren Überwindung.
Dahinter steht das Wissen um den schlichten Fakt, dass mit der Art zu sprechen soziale Ordnungen und Realitäten geschaffen werden. Was nicht benannt wird, existiert nicht, ist abweichend, nicht normal. Was benannt wird, existiert und ist als solches legitim. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben nachgewiesen, wie sehr Worte die menschlichen Vorstellungswelten zum Leben bahnen. Es geht also um etwas sehr Elementares einer humanen Gesellschaft: Es geht darum, Menschen zu gesellschaftlicher Repräsentanz und Normalität zu verhelfen, die ihnen in einer heteronormativen und geschlechterbinär strukturierten Gesellschaft lange verweigert wurde. Es geht um Respekt und den Schutz von Gruppen, die als Minderheit marginalisiert und stigmatisiert wurden und weiterhin in der Gefahr stehen, ausgegrenzt, diffamiert und bedroht zu werden.
Wir wissen, dass dieses Anliegen von einzelnen Gruppen immer wieder lautstark zur Diskussion gestellt oder diffamiert wird. Allerdings gibt es nicht nur diese Abwehr, sondern es ist auch zu sehen, dass sich im Zuge der breiten öffentlichen Debatte Menschen offen, differenziert und ernsthaft mit dem Anliegen geschlechtergerechter Sprache und den damit verbundenen Fragestellungen beschäftigen.
Zudem hat sich Deutschland an verschiedenen Stellen längst zu den Grundwerten einer geschlechteroffenen Gesellschaft bekannt. Die juristische Änderung zum Geschlechtseintrag im Personenstandsregister macht es möglich, „divers“ eintragen zu lassen. In Stellenausschreibungen taucht neben den Geschlechterkürzeln „w“ und „m“ selbstverständlich das „d“ auf. Das Recht auf Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen ist im BGB verankert. In öffentlichen Gebäuden werden Unisex-Toiletten eingerichtet. Die Jugendhilfe hält Treffs und Wohngruppen für queere Jugendliche bereit. Zahlreiche Institutionen des öffentlichen Lebens bekennen sich zur Förderung von Geschlechtervielfalt.
Das BVerfG hat 2017 entschieden, dass die explizite rechtliche Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern nicht nur aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG folgt, sondern auch durch das Verbot der Geschlechtsdiskriminierung in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG geboten ist. Das Gebot sprachlicher Gleichbehandlung war (und ist) seitdem zum Gebot geschlechtergerechten hoheitlichen Sprachhandelns weiterzuentwickeln.
Sprache ist kein fixiertes Programm, sondern Reflex permanenter Veränderungen des Sozialen. Kinder siezen ihre Eltern nicht mehr, es ist möglich geworden Lehrkräfte zu duzen, aus „Lehrlingen“ sind „Auszubildende“ geworden, aus „Kindergärtnerinnen“ „Erzieherinnen“, aus „Übergewichtigen“ „Menschen mit hohem Körpergewicht“ … Diese Veränderungen vollzogen sich in langen Prozessen und niemals konfliktfrei. Auch die Versuche einer geschlechtergerechten Sprache vollziehen sich in sozialen Aushandlungsprozessen. Damit verbundene Debatten, Auseinandersetzungen und Suchbewegungen sind produktiver Bestandteil einer offenen, demokratischen Gesellschaft.
Die neue „Hessenkoalition der Verantwortung“ schlägt sich nun jedoch scheinbar auf die Seite populistisch motivierter Gegner_innen einer geschlechteroffenen Gesellschaft. Welche gesellschaftspolitische Stoßrichtung wird hier eigentlich verfolgt? Gegenüber wem und was wird hier Verantwortung übernommen? Und welche Vorstellungen von Mündigkeit, Freiheit und (Generationen-)Gerechtigkeit sollen hier bedient werden? Wie soll die so oft proklamierte „Brandmauer gegen rechts“ aufrechterhalten werden, wenn solche Narrative aktiviert werden, die in erster Linie in rechtskonservativen bis rechtsextremen Milieus mehrheitsfähig sind?
Als Angehörige der Hochschulen für angewandte Wissenschaften und Universitäten sowie als Genderforscher_innen erwarten wir von einer Hessischen Landesregierung hier einen angemessen ernsthaften Umgang mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit.
Der Wissenschaftsrat hat in diesem Jahr in seinen „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland“ der Genderforschung in Deutschland eine hoch entwickelte Qualität bescheinigt und gefordert, „die Institutionalisierung der Geschlechterforschung weiter voranzutreiben“. Dass Hessen als eines der wenigen Bundesländer schon seit mehr als zwei Jahrzehnten Geschlechterforschung durch Förderprogramme für Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften fördert, wurde in diesem Zusammenhang positiv hervorgehoben. Dass dieses Vorzeige-Bundesland nun auf eine geschlechtergerechte Sprache mit Sonderzeichen prinzipiell verzichten will, mag dazu nicht recht passen. Mit dem Grundprinzip der Freiheit von Wissenschaft ist eine solche Festschreibung ohnehin nicht zu vereinbaren.
Wir schließen uns daher den kritischen Stellungnahmen der Zentren der Geschlechterforschung in Hessen, des Promotionskolloquiums des Gender- und Frauenforschungszentrums der Hessischen Hochschulen für angewandte Wissenschaften (gFFZ) und der Landeskonferenz der hessischen Hochschulfrauen- und Gleichstellungsbeauftragten (LAKOF) an, die die Koalitionspartner des zukünftigen Hessischen Landtags auffordern, auf die im Eckpunktepapier genannte Maßnahme zur Beschränkung der geschlechtergerechten Sprache zu verzichten.
https://www.gffz.de/fileadmin/user_upload/aktuellStellungnahme_Promotionskolloquium_gFFZ_final_1_.pdf
Unterzeichner*innen:
Kerstin Balkow, Hochschule Darmstadt
Prof. Dr. Gudrun Ehlert, Hochschule Mittweida
Prof. Dr. Susanne Gerner, Evangelische Hochschule Darmstadt
Prof. Dr. Carmen Gransee, HAW Hamburg
Dr. Marion Kamphans, Wiesbaden
Prof. Dr. Michaela Köttig, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof. Dr. Christiane Leidinger, Hochschule Düsseldorf
Prof. Dr. Gaby Lenz, Hochschule Kiel
Ioanna Menhard, Hochschule RheinMain
Prof. Dr. Andrea Nachtigall, Alice Salomon Hochschule Berlin
Chris-Kit Pumpmeier, Evangelische Hochschule Freiburg
Prof.´in Dr.´in Alexandra Rau, Evangelische Hochschule Darmstadt
Anne Reber, Philipps Universität Marburg
Dr. Monique Ritter, Hochschule Zittau/Görlitz
Prof. Dr. Lotte Rose, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof. Dr. Yvonne Rubin, Ernst-Abbe Hochschule Jena
Prof. Dr. Reinhild Schäfer, Hochschule RheinMain
Prof. Dr. Ute Schaich, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof.´in Dr.´in Elke Schimpf, Evangelische Hochschule Darmstadt
Prof. Dr. Utan Schirmer, Alice Salomon Hochschule Berlin
Prof. Dr. Andrea Schmidt, Fachhochschule Potsdam
Prof. Dr. Sabrina Schmitt, Frankfurt University of Applied Sciences
Prof. Dr. Barbara Schramkowski, Duale Hochschule Baden-Württemberg
Prof. Dr. Sabine Stövesand, University of Applied Sciences Hamburg
Dr. Barbara Umrath, Technische Hochschule Köln
Prof. Dr. Karin Wagels, Hochschule Ludwigshafen
Prof. Dr. Jan Wienforth, Hochschule München
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